Eine florierende Tabakindustrie hat das einst landwirtschaftlich geprägte Estelí in ein Mekka für Zigarrenraucher verwandelt.
Auf einem Rundgang durch Estelí mag man die allgegenwärtigen Zigarrenfabriken vorerst gar nicht bemerken, denn sie sind selten gekennzeichnet. Aber nach dem Tabakduft zu urteilen, scheint es, als könne man nirgendwohin einen Stein werfen, ohne eine davon zu treffen. Es ist eine Industrie, die diese nördliche Bergstadt reicher als die meisten anderen Städte des Landes gemacht hat.
Die überwiegende Mehrheit der heimischen Fabriken befindet sich hier, und Schätzungen zufolge lebt ein Viertel der Stadtbevölkerung auf irgendeine Weise vom Tabak. Laut nicaraguanischem Zigarrenverband (Asociación Nicaragüense del Puro, kurz: ANP), stellt die Tabakindustrie mehr als 20.000 Arbeitsplätze direkt und im ganzen Land 100.000 Arbeitsplätze indirekt zur Verfügung.
„Als die Fabriken begannen, sich im Zentrum statt am Stadtrand anzusiedeln, gab es anfangs einige Beschwerden über den Geruch und das zunehmende Verkehrsaufkommen, aber nach einer Weile hießen die Leute sie willkommen“, meint Harvey Benavides, Inhaber eines Export/Import-Unternehmens namens Aeromar in Estelí. „Sie wussten, dass es um Jobs und mehr Wohlstand ging. Die Estelíanos profitieren seither kontinuierlich auf sozialer wie auch wirtschaftlicher Ebene von einer Produktion, die jährlich mehr als 100 Millionen US-Dollar erwirtschaftet.“
Bei einem Rundgang durch die Fabrik Plasencia erklärt mir Markenbotschafter Sergio Torres Rodriguez, was dieses vormalig landwirtschaftliche Zentrum in ein zentralamerikanisches Zigarren-Mekka verwandelt hat. „Die schwarze Erde rund um die Stadt und das Klima sind für den Tabakanbau perfekt geeignet. Vor kurzem erzählte uns ein Kunde, dass Estelí laut einer internationalen Studie das weltweit beste Sonnenlicht für Tabak hat. Die Höhenlage ist ebenfalls gut und es gibt nicht viel Wind“, sagt er.
Der Gründer der Fabrik, Sixto Plasencia, kam aus Kuba, wie so viele andere Tabakbauern in den 1960er-Jahren während des US-Handelsembargos. Zigarren werden in der Region seit über 60 Jahren produziert und die erste Zigarrenfabrik Zentralamerikas – Joya de Nicaragua – wurde sogar vor der kubanischen Revolution gegründet. Deshalb wäre es nicht ganz fair zu sagen, dass alles mit dem Handelsembargo begann, doch es war der Beginn von etwas Größerem. „Präsident Anastasio Somoza wollte die Industrie vorantreiben und ließ kubanische Fachleute ins Land, die in der Tabakindustrie Nicaraguas arbeiten wollten.“
Als die Sandinisten 1979 Somoza stürzten und an die Macht kamen, beschlossen Sixto Plasencia und viele seiner Landsleute in Nicaragua zu bleiben. Zumindest vorerst einmal. Aufgrund eines weiteren, dieses Mal über Nicaragua verhängten US-Embargos, übersiedelten viele vorübergehend in benachbarte Länder, doch die Mehrheit kehrte zurück. In den 1990er-Jahren erlebte die Industrie einen Boom.
„Die Gemeinde der Auslandskubaner hielt sich während der Sandinisten-Revolution größtenteils aus der Politik heraus, und Präsident Daniel Ortega belohnte sie, indem er ihnen erlaubte, ihr Land zu behalten. Aus dieser Gemeinde entsprang die florierende Tabakindustrie, für die die Stadt heute berühmt ist“, erzählt Erik McDonald, ein amerikanischer Passionado, der seit fast zwei Jahren hier lebt. „Es ist herrlich. Selbst wenn man nur eine Woche hier ist, lernt man schnell die richtigen Leute kennen und bekommt am Ende immer Zigarren geschenkt.“ Es ist tatsächlich einfach, sich hier anzufreunden. Die Stadt ist klein; sieht man hier jemanden, der Zigarre raucht, dann ist es höchstwahrscheinlich ein Ausländer.
Um Steuerzahlungen an den Staat zu vermeiden, gehören die meisten Fabriken und Produzenten einer Freihandelszone an, und das entsprechende Gesetz verbietet ihnen, Zigarren an nicaraguanische Unternehmen sowie Nicaraguaner zu verkaufen. Die Tatsache, dass praktisch alle Puros exportiert werden, scheint die Bevölkerung jedoch nicht sonderlich zu stören.
„Es ist weder billig noch einfach für Estelíanos, Zigarren zu kaufen, aber es hat deshalb noch nie einen gesellschaftlichen Aufstand gegeben“, so Roberto Blandón, Direktionsassistent bei Aeromar. „Das liegt schlichtweg daran, dass es in Estelí nie eine starke Zigarrenkultur gab.“ Trotzdem kommt es bisweilen vor, dass man einen Fußballer sieht, der wenige Minuten vor dem Spiel eine lange Puro raucht, oder eine alte Dame mit ihrer Einkaufstasche in der einen Hand und einer angezündete Zigarre in der anderen.
Dieser Artikel wurde in der Cigar Journal Winter-Ausgabe 2012 veröffentlicht. Mehr