Noch immer hat COVID-19 den Erdball fest im Griff. Aus der Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit Jonathan Drew in der legendären La Gran Fabrica in Estelí oder in seiner Wahlheimat Miami wird nichts. Jonathan sitzt im Homeoffice in Wynwood, dem Künstlerviertel Miamis, berühmt für seine Graffitikunst. JDs Hintergrund ist interessant: ein großes Tondo des Künstlers Cleon Peterson. „Was Cleon zeigt ist oft brutal, aber kraftvoll und sophisticated, wirklich menschlich und heute aktuell. Ich schätze ihn sehr“, erklärt mir Jonathan. Trotz oder vielleicht gerade wegen unseres virtuellen Treffens kommen wir in ein intensives, offenes und sehr persönliches Gespräch. Unser Dialog kehrt immer wieder zu drei Themen zurück: Visionen, Wahrhaftigkeit und Verwundbarkeit.
VISIONEN
Die Anfänge der mittlerweile zweitgrößten Zigarrenfabrik der Welt liegen in einem winzigen Kiosk, im damaligen World Trade Center in Manhattan, im Jahr 1995. Drew, in dieser Zeit noch Jurastudent, finanziert sein Studium durch den kleinen Tabakladen und als Antiquitätenhändler – alles in allem ein Leben, das schon damals ohne Pausen auskommen musste. Warum er für die Firma den Namen „Estate“ (Land auf Deutsch) wählte, möchte ich gerne wissen. „Die anfängliche Vision war schon sehr lange in meinem Herzen und meiner Seele. Ich sah ein wunderschönes Landgut mit Tabakplantagen und Weingärten sowie einem Bienenstock vor meinem inneren Auge. Diese frühe Imagination einer großen, schönen Welt steckte wohl dahinter, die Firma Estate zu benennen“, erinnert sich Jonathan. 2007 wird die Vision Wirklichkeit, in Estelí eröffnet La Gran Fabrica Drew Estate. Das Gebäude sucht bis heute seinesgleichen: Besucher schwärmen von hellen, riesigen aber freundlichen Räumen, geschmückt von bunten Graffitimalereien. Factory #1 ist mehr als nur eine gigantische Fabrik von knapp 9.000 Quadratmetern. „Unser Innenhof gleicht einem Zen-Platz, riesige religiöse Statuen stehen da. Ich möchte, dass man Gottes Gegenwart und den Geist der Liebe spürt.“ Gleichzeitig arbeiten hier 50 Fulltime-Graffitikünstler. Das ist unsere Passion, wir sind unberechenbar, das spiegelt genau den Zickzackkurs wider, den wir leben“, schwärmt JD von der Fabrik in Estelí. Er liebt diese Stadt, hat hier lange unter einfachsten Bedingungen und von der Hand in den Mund gelebt, bevor er zum Eigentümer der größten Fabrik des Landes avancierte. La Gran Fabrica ist einer der größten Arbeitgeber der Stadt, inzwischen sind über 1.750 Menschen dort beschäftigt. „Durch soziale Programme, Kranken- und Lebensversicherung, eine Fünf-Tage-Woche und gute Löhne hat Drew Estate dazu beigetragen, eine ganze Mittelschicht in Nicaraguas zweitgrößter Stadt zu schaffen“, sagt Jonathan stolz. „Ich möchte unserer Stadt mindestens so viel zurückgeben, wie wir bekommen haben. Und das war viel. Alles ist ein Zyklus: Du gibst, was du bekommen hast, und du bekommst das, was du erhalten solltest.“ 2014 wurde der Standort erweitert: mit „DE2“, einer 5.600 Quadratmeter großen Halle, die speziell für die Rohtabakverarbeitung für vier Millionen US-Dollar gebaut wurde. Dazu kam ein medizinisches Zentrum für alle Arbeiter. „Vor Ort sein und sehen, dass die Arbeiter wirklich glücklich sind, und spüren, dass es ihnen gut geht, ist sehr belohnend. Sie verbringen viel Zeit ihres Lebens bei uns, und wir möchten, dass sie sich geschätzt fühlen“, wünscht sich JD. Mittlerweile ist die „Estate-Vision“ eine insgesamt 16.000 Quadratmeter große Wirklichkeit geworden. Hier werden täglich 165.000 Zigarren produziert. Was – noch bevor es La Gran Fabrica gab – mit der ersten Marke La Vieja Habana begann, manifestiert sich inzwischen in 18 eigenen Marken sowie in zahlreichen Partnermarken, darunter Java und Pappy Van Winkle. Unlängst veröffentlichte The Cigar Authority das Ranking der größten Zigarrenfirmen der USA bezogen auf Verkäufe: Drew Estate, oder kurz DE, nimmt hier Platz drei ein, hinter zwei Konzernen: General Cigar und Altadis. „Ich glaube daran, dass man seine Träume visualisieren muss. Wir tun das noch immer. Die ,Visionen‘, die wir jetzt haben, sind ganz anders als jene, die wir hatten, als wir in den Anfängen steckten. Sie sind tiefer, pragmatischer, besser durchdacht und programmatisch, basieren aber weiterhin auf der gleichen Grundlage an der Schnittschnelle zwischen Kunst, Kultur und Freiheit.“
Echte Nähe zu den Drew Estate-Fans ist einer der Gründe, warum Jonathan Drew so erfolgreich ist
WAHRHAFTIGKEIT
Auch technisch und logistisch ist der Standort von Drew Estate auf dem neuesten Stand, personell ist das Unternehmen top in allen Bereichen aufgestellt. Der jetzige Eigentümer Swisher International – 2014 verkauften Drew und Partner Marvin Samel die Firma an den Tabakgiganten – lässt JD frei agieren. Sein Credo, in allem, was er tut, wahrhaftig zu sein, kann Jonathan auch als Präsident des Unternehmens weiterhin umsetzen. JD fällt kein einziges Beispiel ein, wo der neue Eigentümer Drew Estate negativ beeinflusst hätte, sondern bekräftigt, dass man sich selbst treu bleiben konnte und die Verbindung mit Swisher einen weiteren Blick voraus erlaube. „Wenn man glaubt, DE begriffen zu haben, dann kommen wir mit etwas völlig Neuem, manchmal Radikalem daher. Wir überraschen. Wir agieren in Widersprüchen und zeigen Antithesen. Kuba ist die These und die Tradition, DE ist die Antithese. Wir sind der Störenfried, noch bevor das Wort ,stören‘ ausgesprochen wird. Und wenn unsere Konkurrenten begreifen, wo wir gerade stehen, sind wir schon wo ganz anders“, erklärt Jonathan seinen Platz in der Branche. „Wir sind nicht besser als andere, man kann die wunderschöne Stabilität und Tradition einer Padrón oder einer Fuente nicht leugnen. Aber wir mussten wahrhaftig sein, in dem wie und was wir sind. Wir müssen unseren Sektor vertreten.“ ACID, Drew Estates zweite Zigarrenmarke, löste in den USA 1999 ein Beben aus. Nicht nur, dass die Zigarren „infused“ waren, sorgte für eine Sensation bei der Marke, sondern auch ihr wildes Design, das Hip Hop und Street Art verbindet und verkörpert. Dass nur arrivierte Leute mit Hemd, Manschettenknöpfen und hohem Einkommen ihre Zigarre in möglichst edlem Ledersesselambiente zu Jazz oder klassischer Musik rauchen, damit räumte JD mit ACID auf. Seine Fans sind unabhängig, wild, mutig, neugierig und probierfreudig. Diese Kombination hat ein völlig neues Marktsegment innerhalb der Zigarrenszene kreiert und Menschen erreicht, die zuvor Zigarre als etwas zu Exklusives, zu Luxuriöses und zu Verstaubtes wahrnahmen. Wer einmal zur ACID gegriffen hatte, wurde meist passionierter Zigarrenraucher und kostete sich quer durch die Zigarrenportfolios dieser Welt. So kam Drew Estates Mission „The Rebirth of Cigars“ allen Produzenten zugute. Seither ist der Begriff Zigarre erweitert, anders und neu definiert. „Global betrachtet, kreieren wir noch immer neue Marktsegmente. Wir haben noch Jahre an Fortschritt in unserer Pipeline. In nur 25 Jahren haben wir Innovationsarbeit für 100 Jahre geleistet“, ist Jonathan überzeugt.
Jonathan in Brooklyn mit den Künstlern, welche die Wasserturm-Humidore „Kuba Arte“ zum 20. Geburtstag der Marke ACID gestalten
Drew Estate hat nicht nur eine neue Kultur rund um die Zigarre geschaffen, sondern eine ganze Fangemeinde. „Bei uns kannst du Teil unserer ganzen DE-Kultur sein, mit uns abhängen und Zigarre rauchen, oder du kommst einfach und rauchst keine Zigarre, nimmst aber an unserer Art zu leben teil. Fellowship ist bei uns wichtig, wir wollen diese Leute mitnehmen, wir wollen sie von ganzem Herzen umarmen“, erklärt mir Jonathan. Bereits 2001 erkannte das Forbes-Magazin, dass sich Drew Estate in nur fünf Jahren zur Kultmarke entwickelt hatte. „To be true“ und „to be yourself“ hatte sich als richtige Strategie erwiesen. „Wir wurden in einem Atemzug mit Apple, Krispy Kreme und Harley-Davidson genannt. Diese Firmen bewegten sich längst im Millionen- und Milliardenbereich und sind viel älter als wir“, begeistert sich Drew noch heute über diese Auszeichnung. Von der Kultmarke entwickelte sich Drew Estate in Windeseile zur Vertrauensmarke, dann zur Megamarke. Parallel dazu ging das Unternehmen noch einen zweiten Weg und entfaltete sich zur Lifestylemarke. „Meiner Meinung nach sind wir die einzige Lifestylemarke der Zigarrenindustrie. Was ich, nur um das klarzustellen, damit meine: die anderen haben Lifestyle-Aspekte. Bei uns vergrößert die Fangemeinde den Fußabdruck der Firma. Wenn du mit uns sprichst, redest du mit einer Armee, wir sind viel mehr, als du auf den ersten Blick sehen kannst“, legt mir Jonathan dar. Seinen Erfolg, eine große Anhängerschaft zu haben, erklärt JD auch damit, dass er immer auf sein Herz gehört hat und erkannt hat, wo er in der Welt hinpasst. „Das haben wir auch als Firma geschafft. Wir passen in diese Welt, wir sind hier für einen bestimmten und bedeutenden Grund, und wir verstehen diesen Grund. Wir haben einen starken Instinkt und wissen, was wir erreichen wollen und nehmen die Leute dahin mit. Denn: Allein erreicht man nichts“, ist sich JD sicher.
ACID löste 1999 ein Erdbeben auf dem Zigarrenmarkt aus – und kreierte völlig neue Zielgruppen von Zigarrenrauchern
VERWUNDBARKEIT
Für Jonathan Drew gehört der Aspekt der Verwundbarkeit untrennbar zum Erfolg seines Unternehmens. „Eine Vertrauensmarke wird man erst durch Verwundbarkeit. Indem man Verletzlichkeit zulässt und sie zeigt, sich öffnet – damit schafft man erst Vertrauen.“ Davon und dass dadurch erst Konsumenten zu Partnern werden, ist Drew überzeugt. Verwundbar ist eine Firma immer in Zeiten von Widrigkeiten, die auch Drew Estate dann und wann einholten. 2002 etwa, als die Fabrik und die Produktion sehr schnell wuchsen, tauchte ein Qualitätsproblem auf. Ein Teil der Zigarren hatte Zugprobleme. Gemeinsam mit Ernesto Perez-Carrillo begab sich JD auf die Suche nach der Ursache – und entließ über 200 Leute. In Zehnergruppen wurden die Arbeiter wiedereingestellt; Carrillo und Drew überwachten den Prozess und fanden die Schwachstelle. „Ich war wegen der Entlassungen sehr nervös, aber wir haben sowohl den nicaraguanischen Medien als auch unserer Stadt und natürlich den Mitarbeitern kommuniziert, was passieren würde. So wurden wir unterstützt und dank Ernestos Hilfe konnten wir den Fehler finden“, blickt JD zurück. Ernesto Perez-Carrillo erinnert sich gut an diese Zeit und betrachtet Jonathan nicht nur als persönlichen Freund, sondern „als einen der Großen der Zigarrenindustrie, der innovative und geniale Konzepte für Zigarren und Marketingideen mitgebracht hat. Ich weiß, dass er sagt, dass ich viel für ihn getan habe, aber ihm ist nicht klar, wie viel ich von ihm gelernt habe“. Seit der kurzen Pause zwischen 2014 und 2017 ist JD wieder operativ bei Drew Estate tätig. Wer die Szene verfolgt, weiß, dass tatsächlich fast wöchentlich neue Produkte lanciert werden. Jonathan verliert bei allem Kreieren niemals die Nähe zu seinen Fans. Vor COVID-19 schmiss Drew Estate etwa 1.000 Events für Endverbraucher pro Jahr, darunter das beliebte Format Barn Smoker, wo in den USA an fünf Standorten die Arbeit auf Feld und Farm und der gesamte Prozess rund um die Zigarre erklärt wird. Jonathan ist mit den wichtigsten Teammitgliedern selbst vor Ort. Meist sind die Happenings sofort ausgebucht. Das neueste Mitglied der DE-Markenfamilie stammt aus dem Liga Privada-Portfolio und wird in diesen Tagen lanciert: die Liga Privada Unico Bauhaus, eine Linie, die Drew Estate exklusiv für Europa kreiert hat. Die Short Robusto (114 x 19,8 | 4 1⁄2 x 50) enthält Einlagetabake aus Nicaragua und Honduras, ein brasilianisches Umblatt und wird durch ein Connecticut-Broadleaf aus den USA vollendet. „Die Marke Liga Privada führt das Premiumzigarrensegment mit einer konzeptionellen Ausrichtung auf das Connecticut River Valley tiefer in die amerikanische Tabak-Bewegung. Die Bauhaus-Bewegung verbreitete sich in ganz Europa und inspirierte eine neue Sichtweise auf Architektur und Design. Wir wollen diese beiden Konzepte, Leidenschaften und Inspirationen vereinen, und so verbindet die neue Liga Privada Bauhaus auf wunderbare Weise Geschmacks- und Designtraditionen in ganz Europa, Nicaragua und den Vereinigten Staaten“, veranschaulicht Jonathan die Idee hinter der neuesten Linie. Nachdem ich in die jüngste Kreation eingeweiht bin, neigt sich unser Gespräch dem Ende zu. Viele Gedanken und Ideen bewegen diesen genialen und unkonventionellen Menschen, der so viel mehr ist als Tsunami, Störer und Provokateur: Auch Ruhe, Nachdenklichkeit und Verletzlichkeit trägt er in sich, und selbst wenn er gerne provoziert, um Dinge zu hinterfragen, schätzt er genauso sehr Harmonie. Stören ist ihm nur deshalb ein inneres Bedürfnis, um Neues erschaffen zu können. Kraftvoll, konzentriert, transparent und meist seiner Zeit weit voraus.
Copyright Fotos: Joey Reichenbach & David Torres