Herzlich willkommen in unserem literarischen Rauchsalon. Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Nehmen Sie sich eine Zigarre, machen Sie es sich bequem. Dieses Mal wartet eine besondere Köstlichkeit auf Sie: die Ernesto Pérez-Carrillo Pledge Prequel, eine box-pressed Robusto, die es in sich hat. Zugegeben, die Zigarre sieht nicht unbedingt anders aus als eine weitere Zigarre mit dunklem Deckblatt, die sich ihren Platz auf den Regalreihen zu erkämpfen versucht. Der Blend ist ebenfalls kein großes Geheimnis. Das Deckblatt ist ein Connecticut Habano aus den USA, das Umblatt stammt aus Ecuador und die Einlage aus Nicaragua. Der in Blau gehaltene Ring mit der orange-goldenen Schrift ist zwar wunderschön, jedoch auch nicht der absolute Blickfang schlechthin.
Was also macht diese Zigarre so einzigartig? Das ist die Frage aller Fragen. Wir werden versuchen, diese zu beantworten, und ich möchte Sie dazu einladen, für sich selbst eine Antwort zu finden. Es wird Zeit, ein Flammenopfer darzubringen. Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie mit mir eine herrliche Zigarre. Und lassen Sie mich beim gemeinsamen Genuss die eine oder andere Geschichte erzählen.
Gleich zu Beginn der Zigarre werden wir von einer ordentlichen Portion Pfeffer begrüßt. Ähnlich einem Türsteher vor einem angesagten Club in Berlin entscheidet sich hier, ob wir uns als würdig erweisen. Wer das pfeffrige Aroma, das auch mal Chili-Schärfe sein kann, nicht zu schätzen weiß, dem sei hier geraten, durchzuhalten. Es wirkt ein wenig wie eine Zeremonie zur Aufnahme in einen exklusiven Club. Denn es dauert nur ein paar genussvoll scharfe Züge und die Pfeffrigkeit verschwindet merklich. Wie ein Vorhang lichtet sich der Schleier, die Bühne ist nun frei und das Spiel beginnt.
Es ist das Jahr 2020 und ich hatte das Glück, von einem sehr guten Freund eine Kiste dieser Zigarren als Geschenk zu erhalten. Ich öffnete die Kiste und erblickte diese wunderschönen Zigarren. Ich war mir sicher, dass ich bald eine „Lady“ aus diesem Konvolut genießen würde. Doch es kam anders. Irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt. Vielleicht kennen Sie das. Egal wie voll oder wenig voll der Humidor im Eigenheim ist, manchmal steht man ratlos davor, denn nichts, was gerade im Hause ist, befriedigt das aktuelle Verlangen. So ging es mir auch mit dieser Zigarre. Irgendwie überkam mich lange nicht die Lust, sie endlich zu probieren. Wir alle haben – ob wir es uns nun eingestehen oder nicht – Zigarren, die wir oft endlos lagern, nur weil wir auf den richtigen Moment warten, um sie zu genießen. Manchmal kommt er allerdings nie.
Nachdem sich die anfängliche Pfeffrigkeit etwas gelegt hat, wird man von zarteren Tönen empfangen. Anklänge, die etwas Fruchtiges in sich tragen, geben beinahe ein leichtes Zitrusaroma preis. Sofort bemerkt man die Komplexität des Blends, meiner bescheidenen Meinung nach ein Markenzeichen von Ernesto. Er versteht es wie kein anderer, oft Gegensätzliches miteinander zur Geschmacksexplosion zu vermählen. Das erste Drittel wird definitiv von Fruchtigkeit und etwas Salz, kombiniert mit einem Hauch an Süße, dominiert. Legen Sie an dieser Stelle doch die Zigarre kurz beiseite. Ich verspreche Ihnen, sie wird es Ihnen danken, und ein paar Minuten überlebt diese Zigarre auf alle Fälle im Aschenbecher.
Ich hatte also lange Zeit eine volle Kiste im Humidor. Und genau wie ich warteten die Zigarren auf den richtigen Zeitpunkt. Aber letzten Endes ist dann der „falscheste“ Moment eben genau der richtige. Es war ein Sommerabend, der eigentlich perfekt zu werden schien, jedoch sollte ein Anruf alles ändern. Egal ob man spirituellen Dingen zugetan ist oder nicht, den kurzen Moment, bevor man die Nachricht erhält, einen geliebten Menschen verloren zu haben, den spürt man. Es wird leiser und man hat das Gefühl, dass sich eine kaum wahrnehmbare Kälte durch die Ritzen des Augenblicks drückt. Kaum spürt man, dass sich die Haare leicht aufstellen, wird man durch das Klingeln des Telefons gestört. So war es auch an jenem Sommerabend. Ein Schulfreund hatte sich im Alter von 39 überraschend das Leben genommen. Der Verlust eines Menschen reißt einem den Boden unter den Füßen weg, und obwohl man von einer Sekunde auf die andere total überfordert ist, merkt man gleichzeitig, wie die Welt stillsteht. Tausende Erinnerungen strömen gleichzeitig auf einen ein. Es ist still und laut zugleich, und egal was man zu tun vermag, nichts ändert die Situation. Ich für meinen Teil war mit der Situation einfach überfordert. Oft handelt man unbewusst oder dissoziativ – sieht sich von außen selbst zu – und tut Dinge, die manche nicht als angemessen empfinden würden. Ich für meinen Teil ging wie ferngesteuert zu meinem Humidor, griff nach einer Kiste Zigarren und entflammte meine erste Pledge Prequel.
Die anfängliche Pfeffrigkeit war genau, was ich brauchte. Ein leichter Kick in den Gaumen, ein Kitzeln in der Nase und auch ein Schleusenöffner für Tränen der Freundschaft, die es zu vergießen galt. Eine Zigarre als Toast auf einen guten Freund, der nun vorausgegangen war.
Greifen Sie wieder zur Zigarre und achten Sie auf den schokoladigen Empfang, den sie Ihnen bietet. Auf die Schärfe folgt die Schokolade ähnlich der alten Maya-Rezepturen für den frühen Vorläufer von dem, was wir heute als heiße Schokolade kennen. Es ist eine unglaublich dunkle Seele, die sich hier dem gewogenen Passionado offenbart. Unendlich nachhallende Noten von Kakao, die Bilder von nebelverhangenen Tälern und Hügeln Mittelamerikas heraufbeschwören. Süßer Rauch, der unsere Nasenspitze umspielt, paart sich mit dezent salzigen Untertönen und leichter Holzigkeit, die unseren Gaumen angenehm kitzeln. Die Aromen sind zur Hälfte der Zigarre so dicht, dass sie einem beinahe zu viel sein können.
Als ich an jenem Sommerabend in meiner Wohnung saß und vor mich hin heulte, war es jene Zigarre, die mir als Anker im Diesseits diente. Jene Komplexität half mir, mich zu sammeln, und fing mich auf, hielt mich fest. Ich hatte jemand verloren, einfach verloren, und nichts konnte das ändern. Auch eine Zigarre nicht. Jedoch war das Meisterwerk von Ernesto eine Zigarre, die meinem Freund würdig war. Kräftig und ausdrucksstark, voller Leben und Energie, jedoch mit unglaublicher Tiefe und einer dunklen Seele. Je älter man wird, umso zahlreicher werden die Abschiede und eben auch jene, die für immer sind. In der Vergangenheit hatte ich nie das Bedürfnis, in schlimmen Zeiten eine Zigarre zu rauchen. Ich kam mir wie ein Heuchler vor, Genuss in schlimmen Zeiten zu frönen. Doch die Pledge Prequel hat mich eines Besseren belehrt. Man ehrt seine Freunde nicht, wenn man sich in Verzicht übt. Man ehrt sie, indem man das Leben würdigt und eben auch zelebriert für jene, die es nicht mehr können. Dass mir diese Erkenntnis eine Zigarre vermittelt hat, ist wunderschön. Erkenntnis und Metapher in einem.
Das letzte Drittel der Pledge Prequel ist der kaiserliche Abschluss einer unvergleichlichen Komposition. Was mit Schokolade begann, wird zu frisch geröstetem Kaffee und Espressonoten, die den Gaumen umspielen. Der Rauch wird dichter und schwebt durch den Raum, als ob Geister in Form von Nebelschwaden mit uns tanzen würden. Und wenn man der Meinung ist, die Zigarre hat einem alles offenbart, trumpft sie nochmals auf mit Eindrücken von Zimt und orientalischen Gewürzen bis hin zu Karamell. Nicht mal bei den letzten Zügen zeigt sich eine Spur von Bitterkeit. Selbst der allerletzte Zug tanzt mit der Süße des Lebens auf der Zunge.
Wir alle haben Zigarren für unvergessliche Momente, wir träumen von perfektem Genuss. Wir Passionados haben so manchem Menschen was voraus. Wir wissen, wie wir das Leben zelebrieren können. Doch auch Tod und Trauer gehören zu diesem Leben und diesen Moment darf man ebenfalls zelebrieren, selbst wenn man lediglich zelebriert, noch am Leben zu sein.
Ich hatte in der Einleitung erwähnt, dass die Pledge Prequel von Ernesto Pérez-Carrillo eine Zigarre für besondere Momente ist, für jene Augenblicke, die einem dem Atem rauben. Diese Kiste Zigarren in meinem Humidor ist speziell für jene Tage gedacht, an denen ich einen weiteren geliebten Menschen verliere. Und auch an jenem Tag, als mich meine Mutter für immer verließ und mich nicht enden wollender Schmerz umfing, hat mich diese Zigarre zwar nicht trösten können, jedoch konnte sie mir genug Stille in unerträglichem Leid verschaffen, um kurz innezuhalten, zu atmen und zu überleben.
Dafür bin ich dankbar.