Was hat Zigarrenrauchen mit dem Varieté zu tun?

    Das Varieté entstand mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderung. Das Mittel- und Kleinbürgertum brauchte Unterhaltungsstätten. Und das führte zu Investitionen und neuen Geschäftsideen.

    Im England des 18. Jahrhunderts ging das amüsierbedüftige Publikum in Pubs, Wirtshäuser oder Hotelhallen, weil sich viele Leute den Eintritt in die großen Theater und Konzertsäle nicht leisten konnten. Und so entstanden die ersten Pub- und Saloon-Theater, Song-and-Supper-Rooms, Tavern-Concert-Rooms und Tea-Gardens. Die Bühne war zunächst nur ein Podium oder die Darbietung fand sogar auf dem Parkett statt. Der Eintritt war frei. Es ging in erster Linie um die Gastronomie und das gesellige Beisammensein. Stillschweigen und Aufmerksamkeit wurden nicht erwartet. Natürlich durfte da eine gute Zigarre nicht fehlen. Deshalb nannte man es im Volksmund auch Verzehr- oder Rauchtheater. 

    Es traten Akrobaten auf, Taschenspieler, Balletteusen, Sänger, Komödianten, Tierdresseure. Es gab sogar Groteskclowns, Prügelszenen, Satire, Mimiker, Imitatoren und unflätige Witze. Auch Krüppel, Riesen und Zwerge waren auf der Bühne, die sich zur Schau stellten.* Und da jedes Publikum lachen will, hatte Humor den absoluten Vorrang. Das wurde zum Merkmal des englischen Varietés, das bis heute noch wirkt.

    Um 1850 entstanden die ersten Music-Halls, die das Bühnengeschehen zur Hauptsache machten. Plötzlich wurde Stille und Aufmerksamkeit verlangt. 1870 existierten in London 40, im übrigen England 290 Music-Halls.

    In Frankreich gab es nach der Revolution (1789–1799)die Café-chantants und die Café-concerts, Caf’ conc’ genannt. Das waren allerdings kein Cafés sondern Wirtshäuser mit Unterhaltungsprogramm. Der Gesang dominierte. Es wurden hauptsächlich Chansons, Lieder der Straße und Gosse gesungen. Dazu kamen komische Nummern, Artisten und Akrobaten und ein starker Hang zu lasziver Erotik. In Paris gab es um 1850 etwa 200 Café-chantants.

    Um das ganze etwas gediegener zu machen, entwickelten sich dann die Music Halls: die Music Hall de Varieté, dann die Revue und das Grand Spectacle, das man bis heute kennt. Nackttanz, Cancan und extrem aufwendige Produktionen waren und sind noch heute das Kennzeichen.

    Ein britischer Journalist beschrieb es so: „Die Tänzerinnen sind zu 80 Prozent oberhalb des Kopfes und zu 15 Prozent an den Füßen bekleidet. Ganze 5 Prozent bleiben für den Anstand.“

    Folies Bergère, Moulin Rouge und Paradis Latin sind noch heute aktiv. Dort wurden Legenden eingeladen und gemacht wie Loïe Fuller, Mata Hari, Josephine Baker und Maurice Chevaliere. So wurde in den Revuetheatern z. B. La Goulue zur Legende. Sie ist die Frau, die Henri de Toulouse-Lautrec zur Cancan-Königin erhob. Eigentlich hieß sie Louise Weber, war eine temperamentvolle Rotblondine mit üppigen Formen, schwarz gemalten Augen und einem so guten Appetit, dass man sie „Vielfraß“ nannte, was La Goulue bedeutet.

    In Österreich trug das Varieté von Anfang an operettenhafte Züge. Operettenstars, Sänger, Komiker und Kapellmeister traten ganz selbstverständlich im Varieté auf. Mitten im Nummernprogramm des Varieté gab es plötzlich eine Kurzposse, eine Burlesque oder eine Kurzoperette. Natürlich bei laufender Gastronomie. Daraus entwickelte sich die Wiener Revue: Prunk, Farbe, Nacktheit, Witze, Tempo, Clownerie, Zoten, Ironie. Sie war in den 1920er-Jahren die beliebteste Unterhaltungsform in Wien.

    Noch heute sind die Namen der ersten österreichischen Varietés bekannt: das Leicht’sche Pratervarieté und das Ronacher. Dort gastierten viele der damals weltweit angesagten Künstler und Artisten. Eine der größten Entdeckungen des Ronachers ist Marika Rökk, die schon mit 20 ein Varietéstar war und dadurch erste Filmrollen angeboten bekam.

    Vorläufer für das deutsche Varieté waren Polka-Kneipen und Zirkusse. Dann gab es Spezialitätenvorstellungen in sogenannten Singspielhallen und Theater, die Akrobatik, Magie, Clownerie, Dressur und andere Besonderheiten auf die Bühne brachten. Diese Vorstellungen waren so erfolgreich, dass dies zu den ersten Varietés führte. Ab 1880 entstanden große Varieté-Prunkbauten als Gastronomie-, Verzehr- und Rauchtheater. In Hannover gab es 1900 schon neun Varietés, in Berlin sogar 80! Viele dieser Häuser hatten weit über 1.000 Sitzplätze. In Deutschland tendierte man zum Nummernprogramm. Das heißt, man kaufte einfach Darbietungen unterschiedlichster Künstler ein und ließ diese nacheinander auftreten. Man engagierte alle, die erfolgversprechend schienen.

    Im Berliner Wintergarten gab es am 1. November 1895 die Varieténummer „Das Bioskop – die interessanteste Erfindung der Neuzeit“. Dort führten die Gebrüder Skladanowsky ihre ersten bewegten Bilder vor. Später stellte sich heraus, dass es die erste öffentliche Filmvorführung war.

    Ein Zeitgenosse schilderte den Wintergarten folgendermaßen: „Im Saal konnte man bequem einen Schoppen Bier trinken und eine Zigarre rauchen, während man den Vorstellungen auf der Bühne Auge und Ohr lieh.“

    In den USA gab es bereits vier, dem Varieté ähnliche Formate: Vaudeville Shows, Minstrel Shows, Extravaganza und die Burlesque Show. All das hatte großen Einfluss auf das amerikanische Varieté.

    Mit den Einwanderungswellen von 1860 bis 1890 kam die Varietéidee in die USA. Und bald wurde New York das Vergnügungszentrum. Die Glanzzeit hatte das Varieté dort von 1890 bis 1930. Oscar Hammerstein I., ein deutscher Einwanderer, arbeitete sich vom Zigarren-Hilfsarbeiter zum Millionär hoch. Er eröffnete das Olympia Theatre und das Victoria Theatre in einem tristen New Yorker Stadtteil, der bald zum Broadway avancierte.

    Dann gab es die Ziegfeld-Revuen, die das französische Varieté amerikanisierten und damit Maßstäbe für ganz Amerika setzten. Fred Astaire und Gypsy Rose Lee wurden darin zu Stars. Die Shubert Brothers amerikanisierten das deutsche Varieté. 1914 gab es in New York bereits 65 Varietés. Das Hippodrome hatte rund 5.200 Plätze und galt als „the largest playhouse of the world“. Die Bühne war 61 Meter breit und 33 Meter tief! Im Palace Theatre (ca. 1.800 Plätze) tanzte Anna Pawlowa, Helen Traubel sang und Pietro Mascagni dirigierte. Bald spielten sie vier Vorstellungen pro Tag, wobei die teuerste Karte einen Dollar kostete. Jazz wurde integriert, Elefanten kamen auf die Bühne, Liliputaner-Shows waren populär.

    Zwischen 1922 und 1929 galt das Varietégeschäft als sehr gewinnversprechend an der Börse. Und so entstanden die Trusts. E.F. Albee hatte zu seiner Glanzzeit 350 Varietétheater in den Vereinigten Staaten, mehr als 20.000 Künstler pro Jahr und ließ sie bis zu 78 Wochen durch seine Etablissements touren.

    Die beiden Weltkriege, der aufkommende Film, ein Striptease-Boom und das Fernsehen beendeten die große Varietézeit. Anfangs wechselten die renommierten Häuser immer wieder zwischen Kino- und Varietéprogrammen. So auch die Radio City Music Hall in Manhattan – „The Showplace of the Nation“. Sie galt als Kinovarieté, hatte 6.200 Sitzplätze in Klubsesseln und präsentierte auf der 40 Meter breiten und 20 Meter hohen Bühne sowohl Varieté also auch Filmvorführungen.

    Der letzte Varietéboom im Palace Theatre war 1967 mit Filmstar Judy Garland, die selbst aus einer Vaudeville-Familie kam. Das Palace Theatre engagierte sie für 14 Tage mit einer Tagesgage von USD 4.500. Doch da der Erfolg so groß war, wurde verlängert, und das Programm war sechs Monate ausverkauft.

    Einige wenige Häuser haben sich gehalten, und viele wurden inzwischen wiedereröffnet. Das Varieté erfreut sich erneut großer Beliebtheit, vieles von dem guten Alten wird wiederbelebt und auch Neues entdeckt.

    Schauen Sie doch mal in Ihrer Nähe. Nur die Zigarre sollten Sie inzwischen lieber für danach einplanen.

    Text: Andreas Gebhardt

    * In diesem Artikel wurden zur Veranschaulichung der damaligen Varietészene die zu jener Zeit gebräuchlichen Begriffe („Zwerg“, „Liliputaner“ etc.) verwendet, die heute unzeitgemäß sind und als diskriminierend empfunden werden.

    Zum Autor: Andreas Gebhardt tourte 20 Jahre lang als Varietékünstler durch die Welt. Auch Zigarrenkisten hat er jongliert. Inzwischen ist er Jongleur und Business-Speaker und hält erfrischende Keynotes zum Thema Fehlerkultur und Mut zur Veränderung. www.andreasgebhardt.de

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